Bleibt alles anders
- lavieenroute
- 28. Jan. 2024
- 5 Min. Lesezeit
Grönemeyers Song trifft den Zustand der Stadt Berlin perfekt. Nirgends sonst ist der Wandel so dauerhaft, beinahe gewöhnlich. Denn Berlin hat viel zu verdauen und ist trotzdem – oder genau deswegen – ausgesprochen geschichtsbewusst. Zeit nachzudenken.
Ach, Berlin. Dieser Krake einer Stadt, die sich andauernd verändert. Beständigkeit ist einfach nicht so ihr Ding. Vom Wetter vielleicht einmal abgesehen, denn der garstige Januarwind, der durch die Plattenbauten, Parks und über die Plätze pfeift, ist uns von früheren Berlinmomenten her bestens vertraut.
Berlin ist nicht fertig, wird es vielleicht niemals sein. Berlin lebt im Jetzt. Und doch ist die Geschichte in dieser imperfekten Metropole so präsent wie an kaum einem anderen Ort überhaupt. Ist man im Herzen des politischen Zentrums unterwegs, kann man gar nicht anders, als die Spuren und Einflüsse gleich zweier vergangener deutscher Diktaturen wahrnehmen. Muss man.
Unser Ausgangspunkt ist der Potsdamer Platz, einer der am besten erreichbaren Verkehrsknotenpunkte der Hauptstadt und auch mit Hotels, Restaurants, Bars und Einkaufsmöglichkeiten bestens ausgestattet. Ja, Berlin hat charmantere Stadtteile, hippe Kellerclubs, zahllose Strassenzüge, deren Shabby-Chic oft kopiert und nie erreicht ist. Doch darum geht es dieses Mal nicht.
Erinnerung leicht zugänglich gemacht
Unser erster Stopp ist nur einen kurzen Spaziergang vom Potsdamer Platz entfernt. Ungefähr auf halbem Weg zum Brandenburger Tor, diesem Symbol des deutschen Aufbruchs, liegt das Denkmal für die ermordeten Juden Europas, oft auch als Holocaust-Mahnmal bezeichnet. Etwas weniger als 3000 Betonquader erinnern an diesen düsteren Abgrund der deutschen Geschichte – der Menschheitsgeschichte. Ein Ort, den zu besuchen niemandem schadet, gerade in Zeiten, in denen diejenigen Ideologien wieder Auftrieb gewinnen, die dieses Denkmal immerhin nötig gemacht haben. Wir staunen zum ersten Mal an unserem Berlin-Wochenende, denn das Denkmal ist trotz der winterlichen Eiseskälte ausgesprochen gut besucht. Berlin-Reisende aus den verschiedensten Teilen der Welt beschäftigen sich mit der grausam schlichten Architektur, spazieren durch das Stelen-Labyrinth, fangen die beklemmend-lichtspielerische Atmosphäre mit Kamera oder Handy ein.
Auf und ab. Die deutsche Hauptstadt kennt sich (leider) damit aus.

Gelegentlich klettert jemand auf einen der Quader und wird vom Sicherheitspersonal sanft wieder auf den Boden gebeten. Auch wir bewegen uns zwischen den Quadern über den gewellten, eisigen Boden hinweg, kommen ab und zu ins Rutschen und lassen die Umgebung einfach auf uns wirken. Übrigens: Nur wenige Meter vom Holocaust-Mahnmal entfernt liegen die Denkmäler für die im Nationalsozialismus ermordeten Homosexuellen und für die im Nationalsozialismus ermordeten Sinti und Roma. Und erinnern uns daran, woran wir uns so selten erinnern.
Entlang des früheren Verlaufs der Berliner Mauer, also mitten auf dem früheren Todesstreifen, wo das Regime der DDR seine eigenen Bürger*innen auf der Flucht erschossen hat, bewegen wir uns weiter zum Brandenburger Tor, mischen uns ins Gewusel aus Tourist*innen, Demonstrierenden, Polizist*innen. Wir fragen uns, ob es noch eine andere Hauptstadt gibt, deren politisches Wesen zu jeder Zeit so sichtbar ist. Wir spazieren weiter, vorbei am Bundestag, am Kanzleramt entlang, zurück in Richtung Tiergarten. Das Knirschen unserer Schritte im Schnee wird unterbrochen vom Soundtrack hupender Traktoren und Lastwagen, denn auch an diesem kalten Wochenende demonstrieren die Landwirte im Herzen der Hauptstadt.
Ein ruhiger Moment im Tiergarten, mitten in der Stadt.

Grosse Fragen, überall
Auf der Suche nach etwas Abstand zu den grossen politischen Fragen machen wir uns auf den Weg nach Kreuzberg und stossen dort auf, natürlich, grosse politische Fragen. Beim Spaziergang durch die wunderbar vielgestaltige Oranienstrasse werden wir auf eine weitere Demonstration aufmerksam. Hier scheint es um die Anliegen der palästinensischen Community zu gehen – das Flaggenmeer ist eindeutig, die Kundgebung laut, aber friedlich. In einem anderen Stadtteil, so erfahren wir später, findet zeitgleich eine Mahnwache für die israelischen Hamas-Geiseln statt. Ach, Berlin. Nachdenklich nippen wir in einem Hipster-Kaffee an einem Hipster-Kaffee in der Nähe des Kottbusser Tors und kommen zu dem Schluss, dass Demokratie eben genau so funktioniert.
Es wird Abend und die Berliner Luft schneidet uns immer kälter ins Gesicht. Eigentlich der Moment für eine heisse Dusche. Doch einen Stopp haben wir noch auf der Liste, denn auch wenn es ein Klischee ist, kann ein Berlin-Aufenthalt ohne Currywurst einfach nicht komplett sein. Also los in Richtung Prenzlauer Berg, einmal Curry Pommes, macht 6 Euro, stilecht unter der Hochbahn zu geniessen.
Vibes wie aus einem Gemälde von Hopper: Currywurst-Dinner, 6 Euro.

Terror der politischen Extreme
Am nächsten Morgen kann die Kälte kommen. Eingepackt, genährt und aufgewärmt ziehen wir los. Unser Ziel an diesem klirrend eisigen Januartag ist der Erinnerungsort mit dem etwas sperrig anmutenden, doch sehr präzisen Namen «Topographie des Terrors». Auf diesem Gelände befanden sich früher die Zentrale der «Gestapo», der Sitz Himmlers und der Zentrale des «Sicherheitsdienstes» der SS. Entlang des heutigen Geländes verläuft ebenfalls ein konserviertes Stück der Berliner Mauer. Die Geschichte zweier Diktaturen.
Was wir antreffen, ist ein sehr schlichtes Informationszentrum, in dem sich zahlreiche Schulklassen – wir hören unter anderem die spanische, italienische und englische Sprache heraus – mit der Geschichte auseinandersetzen und im Verlauf des Besuchs immer stiller werden. Wir treffen auch einen Teil des Geländes an, der bewusst leer gelassen wurde. Wir lassen die mit etwas Schnee bedeckte Leere auf uns wirken. Nichts kann so laut sein wie das vorwurfsvolle Schweigen des leeren Raums.
Vorwurfsvolle Leere.

Wir spazieren etwas durch die Innenstadt, fragen uns ernsthaft, ob wir die einzigen sind, die die DDR-Nostalgie-Angebote wie Trabi-Touren oder den Verkauf von DDR-Flaggen direkt neben den Resten der Berliner Mauer heftig zynisch finden und kommen zum Checkpoint Charlie, wo in Zeiten der Besatzung Berlins der amerikanische an den sowjetischen Teil grenzte. Ein Ort, an dem Ideologien aufeinandertrafen. Heute finden wir dort eine Kentucky-Fried-Chicken-Filiale und einen Insta-Hotspot inklusive Menschenschlange.
Well.

Flagge zeigen gegen Faschismus
Entlang der Friedrichstrasse erreichen wir den Pracht-Boulevard Unter den Linden und wärmen uns mitten im Parlamentsviertel bei einem Kaffee auf. Die Kaffeebar, die wir ansteuern, beginnt sich zu füllen – und viele der Menschen um uns herum sind mit Transparenten, Flaggen oder beschrifteten Kartons ausgerüstet. Sie bereiten sich auf eine Demonstration grossen Ausmasses vor und protestieren gegen die neu aufflammenden und maximal hässlichen Faschismus-Fantasien am rechten Rand der deutsche Parteienlandschaft – genauso wie Hunderttausende in weiteren deutschen Städten. Wir finden, Berlin ist ein würdiger Ort, um uns einer solchen Demo anzuschliessen – direkt vor dem deutschen Bundestag, unter den Augen der Parlamentarier. Denn La Vie en Route glaubt an Vielfalt, wir mögen es gerne bunt und wissen, dass die Extreme der Geschichte noch nie irgendwohin geführt haben. Also mischen wir uns unter die 300'000 Demonstrierenden und erleben Gänsehautmomente. Unterbrochen werden wir nur von unserem Smartphone, das uns daran erinnert, dass bald ein Flug nach Zürich auf uns wartet. Also ab zum Berliner Flughafen (der übrigens besser ist als sein Ruf) – und bis bald in dieser zuverlässig unbeständigen Stadt.
Ach, Berlin.
Gut zu wissen
Von Zürich aus ist Berlin mehrmals am Tag mit Swiss und Easyjet erreichbar. Auch eine Bahnreise ist mit etwas mehr Zeit eine Option, dafür sind etwa neun Stunden einzuplanen. Die gleiche Zeit nimmt eine Autofahrt in Anspruch.
An Unterkünften bietet Berlin vermutlich für jeden Geschmack etwas. Wir haben uns aufgrund der guten Erreichbarkeit und wegen eines ordentlichen Angebots für das Grand Hyatt am Potsdamer Platz entschieden und waren ausgesprochen happy mit dieser Wahl.
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