Der Schmelztiegel
- lavieenroute
- 6. Aug. 2024
- 5 Min. Lesezeit
Eine Stadt am Meer, hoch im Norden und mit einer malerischen Altstadt. Tallin ist ein Bilderbuch-Reiseziel für ein Wochenende oder mehr. Und zugleich zeigt es sich als lebenshungrige kleine Metropole, die ihren Besuchenden anschaulichen Geschichtsunterricht vermittelt.
Hat Europa eigentlich so etwas wie eine Hauptstadt? Manche mögen die politischen Zentren der europäischen Organisationen so verstehen, Brüssel, Strasbourg, vielleicht auch Luxembourg. Die kulturelle und geschichtliche Bedeutung Berlins und Paris’ wird kaum jemand in Frage stellen. London hingegen scheint sich von Europa abzuwenden, und über Bern oder Zürich wollen wir an dieser Stelle besser gar nicht erst anfangen nachzudenken.
Ganz am Rand zumindest des politischen Europas, an der Ostseeküste Estlands, liegt eine malerische Stadt, die solche Fragen aufwirft. Denn dort oben in Tallinn vermengen sich die Einflüsse und man kommt als Gast gar nicht umhin, sich mit Geschichte und ihren Learnings auseinanderzusetzen.
Der Reihe nach. Wir landen mitten in der Nacht und rechnen damit, dass wir die absolut letzten Ankommenden sind und den Weg in die Innenstadt irgendwie improvisieren müssen. Was eine Fehleinschätzung ist, denn im Ankunftsbereich geht es mehr als lebendig zu und der Taxistand gleicht in der milden Augustnacht einem Ameisenhaufen. Die Vibes wären auch eines Mittelmeerlandes würdig.
Historische Handelsstadt und Trendlocation
Nach ein paar Stunden Schlaf erlaubt uns das Tageslicht einen Blick aus dem Hotel in Richtung Altstadt und, tatsächlich, über die Ostsee. Wir bewegen uns gemütlich auf das Zentrum zu und fühlen uns an Warschau und Riga erinnert, beide sind immerhin so etwas wie Geschwister von Tallinn. Wir entdecken Jugendstilarchitektur, Plattenbauten, Kirchtürme, Pflastersteine, die so grob sind, dass amerikanische Reisende Mühe haben, zu Fuss zu gehen (und ja, wir wünschten, das wäre ein Klischee – doch etliche auf den ersten Blick fit aussehende Menschen schienen den unebenen Boden nicht zu beherrschen und brachten das auch breit fluchend zum Ausdruck).
Malerisch: Tallinns Rathausplatz

Kreuz und quer spazieren wir durch die aufgeräumten Altstadtgassen, gesäumt von prächtigen Wohn- und Handelshäusern aus der Zeit der Hansestädte, als Tallinn (im Deutschen früher auch «Reval» genannt) bereits eine wichtige Rolle im Handelsverkehr der Ostsee einnahm. Mittendrin: Das wuchtige Rathaus mit seinen gotischen Bögen, über 700 Jahre, das auch als das älteste noch bestehende Rathaus Nordeuropas gilt. Die Mittelalter- und Hansezeitfolklore für Kreuzfahrtreisende ignorieren wir so gut es geht, denn die Geschichte Tallinns spüren wir auch so. Denn ganz leise klopfen auch Erinnerungen an Hamburg, Lübeck und Stockholm in unserer Wahrnehmung an.
Fischerdorf, Industriegebiet, Trendviertel

A propos Stockholm. Wer die schwedische Metropole gut kennt, hat vielleicht auch schon einmal das dortige Fotografiemuseum besucht, auch bekannt unter dem Namen Fotografiska. Ausgehend von Schweden hat Fotografiska in verschiedenen Metropolen weitere Standorte eröffnet, darunter New York und Berlin. Und eben Tallinn. Der estnische Ableger dieses Foto-Tempels liegt in einem früheren Industriegebiet (noch früher war es übrigens ein Fischerdorf), das mit Start-ups, Bars, Museen und Grünflächen neues Leben eingehaucht bekam. Wie übrigens in vielen anderen grossen Städten auch, doch was das Gebiet namens Kalamaja einzigartig macht, ist seine Ungezwungenheit. Die vorhandenen Tischtennisplatten werden tatsächlich genutzt (es gibt übrigens viele davon in Tallinn), nebenan sind Slacklines gespannt, die auch von Tourist:innen genutzt werden, spontan unterstützt von den Mitarbeitenden (vielleicht auch: Gründer:innen) der benachbarten Start-ups und Foodtrucks. Was hier sehr augenscheinlich wird und uns wirklich beeindruckt, ist die Leichtigkeit, die Tallinn ausstrahlt. Parallelen mit dem Berlin der Jahrtausendwende sind unübersehbar.
Ein unterschätztes Ziel für Badeferien?
Es ist ein milder Sommertag im hohen Norden, und wir suchen etwas Abkühlung. Nach dem inspirierenden Fotografiska-Besuch am besten draussen. Denn Tallinn ist als Strand-Destination vielleicht unterschätzt. Unser Stopp am Pirita Beach tut gut, wir geniessen den Ostsee-Wind und sind angesichts der Grösse der Strandmöwen froh, gerade nichts zu essen in der Hand zu halten. Die Strandinfrastruktur ist gut ausgebaut, das Wasser klar, wenn auch für unseren Geschmack doch etwas zu frisch, um schwimmen zu gehen. Möglich wäre es, und die vermutlich stärker Ostsee-erprobten Locals machen rege von den flachen Zugängen ins Wasser Gebrauch. Die Präsenz des Meers bringt uns auf einen weiteren Gedanken: Das unverkrampfte Wesen Tallinns, eine Wirtschaft voller Start-ups, Zugang zu Sandstränden überall – ist die Hauptstadt Estlands vielleicht auch so etwas wie eine kühlere, nordische Ausgabe von Tel Aviv?
Strand trifft Skyline: Sommer in Tallinn

Wie das Gestern das Heute prägt
Am Strand entlang cruisen wir auf einem Elektro-Scooter zurück Richtung Innenstadt und machen unterwegs einen ausführlichen Zwischenstopp bei einer unübersehbaren Struktur. Was von Lage und Gestaltung her auf den ersten Blick auch der Zugang zu einem spanischen Designhotel sein könnte, entpuppt sich auf den zweiten Blick als eine der grössten Gedenkstätten Tallinns. Zwei gewaltige und parallel ausgerichtete schwarze Mauern ragen in den blauen Himmel und strecken sich von einem kleinen Garten voller Apfelbäume hin zum Strand. Hier gedenkt die noch junge Republik Estland ihrer Menschen, die den kommunistischen Regimes zum Opfer fielen, die im 20. Jahrhundert über Estland herrschten. Die schwarzen Mauern sind voll mit Namen. Vereinzelt haben Angehörige einen Blumenstrauss deponiert. Eine ältere Dame scheint mit ihren Enkeln gekommen zu sein, wir hören zufällig, wie sie auf Deutsch vom Verschwinden ihres Mannes berichtet.
Weiteres Lauschen ist nicht angebracht, doch im Fahrtwind des Scooters haben wir plötzlich eine Erkenntnis: Die Unbekümmertheit und Energie Tallinns steht nur auf den ersten Blick in scharfem Kontrast zu seiner historischen Ernsthaftigkeit. Dass Tallinn heute pulsiert und blüht, ist vielmehr eine direkte Ausprägung seines Geschichtsbewusstseins. Denn was ein grosser Teil Europas als selbstverständlich empfindet – Demokratie, Zugang zu Bildung und eine offene Gesellschaft etwa – war hier nicht immer vorhanden. Doch zeigt sich der Wert dieser Errungenschaften nicht ganz besonders an so einem Ort, der seine Narben nicht versteckt, sondern verziert?
Ort der Erinnerung

Tallinn lebt. Wir haben nach einem Tag so viele verschiedene Eindrücke gesammelt, dass wir irgendwann damit aufgehört haben, uns an andere Orte erinnert zu fühlen. Denn eigentlich ist es genau die Vielfarbigkeit dieser Stadt, die sie zu einem einzigartigen Schmelztiegel macht. Möglicherweise ist Tallinn genau deshalb ein noch viel stärkeres Symbol für ein friedliches, liberales Europa als Brüssel, Strasbourg oder Berlin. Ein wundervolles, unkompliziertes Reiseziel ist es allemal.
(Neugierig auf mehr Estland? Fortsetzung folgt!)
Gut zu wissen
Ab Zürich fliegt die Swiss mehrmals pro Woche direkt ab Zürich nach Tallinn, die Flugverbindungen sind jedoch zu extremen Randzeiten, vor allem angesichts der einstündigen Zeitverschiebung. Der Flughafen Tallinn liegt nicht weit von der Innenstadt entfernt, mit dem Auto sind es 10 Minuten, mit Bus oder Tram etwas länger.
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