Ungeschliffen
- lavieenroute
- vor 2 Tagen
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Sofia zählt zu den wenigen europäischen Metropolen, denen der Tourismus seine austauschbare Handschrift nicht aufgedrückt hat. Manchen mag die bulgarische Hauptstadt etwas rau vorkommen, doch der Charme aus Jahrtausenden von Geschichte zeigt sich sehr schnell. Kurz gesagt: Sofia ist spannend und gnadenlos authentisch.
Wer mit dem Flugzeug nach Sofia anreist, sitzt auf dem Logenplatz. Denn der Anflug führt direkt über die Innenstadt und bietet einen hervorragenden Blick auf alle Türme, Alleen, Plattenbauten und das kleine Gebirge namens Vitosha direkt neben der Stadt.
Die Schlagader von Sofia, der Vitosha Boulevard.

Wer dann aussteigt und sich über Land in die City begibt, erlebt erstmal breite Einfallschneisen für den Strassenverkehr und ein eher ruppiges Verhalten der Menschen am Steuer. Wohnhochhäuser aus Zeiten vor der Wende wechseln sich ab mit neu gebauten Bürogebäuden. Parks unterbrechen die Bebauung, Schlaglöcher halten die Verkehrsteilnehmenden zuverlässig wach.
In der Innenstadt selbst zeigt sich wie auch in anderen Städten der ehemals sowjetischen Einflusssphäre eine erstaunliche Mischung an Bauwerken. Orthodoxe Kirchen und Kathedralen stehen in Sichtweite von Moscheen und Synagogen, während drumherum antike Ausgrabungen, Betonklötze und klassizistische Palästchen das Stadtbild prägen. Sofia, soviel ist schnell klar, hat eigentlich alles schon einmal gesehen.
Gelassenheit.

Nach vielen Reisen in verschiedene Gebiete des Balkans entsteht mit der Zeit ein Bild, ein Gefühl dafür, wie die Region funktioniert und was die unterschiedlichen Kulturen ausmacht. Wir haben beispielsweise Belgrad als hochgradig energiegeladen erlebt. Bukarest als sehr elegant. Dubrovnik fühlt sich an wie direkt aus einem Film (und es war ja auch die Kulisse von Game of Thrones).
Sofia lässt sich weniger gut greifen. Die bulgarische Hauptstadt fühlt sich rau an, so als würde sie einfach ihr Ding machen, denn das hat sie schliesslich schon immer so gehalten. Und doch hat sie eine weiche Seite, denn kommt man mit den Locals ins Gespräch, zeigt sich schnell grosse Gelassenheit und ein ausgeprägter Sinn für das Wesentliche – und dieses Wesentliche hat mit Essen und Trinken zu tun.
Natürlich sind die Bauwerke Sofias absolut sehenswert –goldverzierte Kuppeln, ein Minarett praktisch neben dem prachtvollen Portal der Synagoge (getrennt nur von einer Kaufland-Filiale) und prächtige Theater, Parks und Museen sind eindeutige Kennzeichen einer aufstrebenden europäischen Hauptstadt mit langer Geschichte.
Doch vielleicht ist Sofia eigentlich ein Foodie-Paradies. Denn abgesehen von der kräftigen Balkan-Küche mit ihren herzhaften Grill-Gerichten profitiert Bulgarien auch von der unmittelbaren Nachbarschaft zu Griechenland und zur Türkei. Das heisst, dass auch eine sehr attraktive Salat-, Gemüse und Süssspeisen-Kultur besteht, und auch fleischlose Ernährung ohne Probleme möglich ist.
Frisch, bunt, gut: Shopska, der bulgarische Salat.

Wer möchte, findet auch ein grosses Angebot an lokalen Weinen vor. Oder kann sich mitten in der Stadt aus antiken Quellen eigenes Heilwasser zapfen. Oder auf dem Markt frische Tomaten kaufen oder einen Orangensaft, der diesen Namen auch verdient. Man kann es auch machen wie die Locals und sich am Wochenendnachmittag einfach ein paar Stunden lang ins Café setzen und die Stadt auf sich wirken lassen. Denn der Vitosha-Boulevard, die Schlagader von Sofia, bietet mit Sicherheit ein besseres Programm als die meisten TV-Sender.
Erfrischend ist, dass Sofia scheinbar kaum Massentourismus kennt, und man sich daher auch preislich in einem vernünftigen Rahmen bewegen kann, sowohl was Unterkunft, Restaurants, Transport als auch Aktivitäten vor Ort angeht (viele Eintritte sind kostenlos).
Lohnt sich also ein Städtetrip in die bulgarische Hauptstadt? Unbedingt ja – vor allem für Reisende, die gerne auf eigene Faust losziehen und touristische Infrastruktur eher mühsam finden. Denn wer genauer hinsieht, erkennt viel Herzlichkeit und eine spannende Kultur hinter der rauen Fassade.
Gut zu wissen
Sofia ist von Zürich aus täglich mit Swiss-Flügen erreichbar. Doch auch über Land und mit etwas Zeit ist die Anreise per Zug oder Auto möglich – dann ist mit etwa 27 (Zug) bzw. 18 Stunden (Auto, reine Fahrzeit) zu rechnen. Bulgarien ist vor Kurzem dem Schengener Abkommen beigetreten, darum ist die Einreise ab der Schweiz bzw. aus den benachbarten EU-Staaten sehr einfach.
Innerhalb von Sofia gibt es ein Metro-System, das gut funktioniert (einfach mit Kreditkarte ein- und auschecken, man braucht dann kein Ticket). Uber gibt es in Sofia nicht, ein guter und zuverlässiger lokaler Taxi-Service mit eigener App heisst Volt – super geeignet, wenn man mit Metro oder zu Fuss nicht mehr weiterkommt. Volt ist etwas teurer als die lokalen Taxis, aber dank der App viel weniger anfällig für kleine Betrügereien.
Unterkünfte gibt es wie in den meisten europäischen Grossstädten in grosser Zahl. Wir haben uns für ein recht neues Hotel mitten in der City entschieden, das Juno. Die Lage in einer Seitenstrasse des Vitosha-Boulevard könnte nicht besser sein, trotzdem war unser Zimmer ruhig und gleichzeitig auch ausgesprochen schick. Für Sofia ist das Juno nicht wahnsinnig günstig, aber Lage und Einrichtung sind den Tarif wert.
Wie oben beschrieben ist Sofia eine Foodie-Destination, daher hier eine Auswahl der Adressen, die uns im Gedächtnis geblieben sind:
Raketa Rakia Bar: Etwas ausserhalb der City gelegen am Fusse eines Plattenbaus und mit Raumfahrt-Atmosphäre. Tolle, rustikale Küche, ungefilterter, herzlicher Service und den Spaziergang absolut wert. Vorsicht vor den eingelegten Chili-Schoten – wenn die Raketa-Bar etwas als scharf bezeichnet, ist es genau so gemeint.
Shtastlivetsa Restaurant: Eine umfangreiche Speisekarte mit bulgarischen Spezialitäten, frisch zubereitet. Unaufgeregter Service und sehr entspannte Atmosphäre.
Constantinoff: Eine der schickeren Adressen am Vitosha Boulevard, und definitiv nicht preisgünstig. Die Küche ist hochklassig und der Service unglaublich aufmerksam. Auch Desserts kommen hier vom Grill – Ausprobieren lohnt sich.
Handmade Banitsa Shop: Banitsa ist ein ganztags passender Snack aus Blätterteig mit Käse, Spinat und/oder Hackfleisch. Der kleine Imbiss in der Innenstadt ist eine tolle Adresse dafür – inklusive geduldiger Erklärungen. Achtung: Kartenzahlung wird hier nicht akzeptiert.
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